Wenn uns jemand nach dem Koran fragt und was er ist, antworten wir ganz selbstverständlich: „Der Koran ist das Buch Allahs!“ Immerhin wird dies auch ganz zu Beginn in ihm gesagt. Im ersten Vers der Sure al-Baqara heißt es:
„Dieses Buch, an dem es keinen Zweifel gibt, ist eine Rechtleitung für die Gottesfürchtigen“ (2:1)
Der Koran ist auch in gebundener Form als Buch erhältlich oder wir finden ihn in zahlreichen Apps und als HTML-Dokument auf einer Vielzahl an Webseiten. Tatsächlich ist der Koran aber gar kein Buch in diesem Sinne, allein schon von der Begriffsbedeutung nicht.
Ein قُرۡءَانُ (Qur’an) ist eigentlich nicht etwas, das auf- bzw. niedergeschrieben wird, denn قُرۡءَانُ kommt von قَرَأَ (qara’a) und das bedeutet „lesen“. Damit ist jedoch nicht die Art von „lesen“ gemeint, wie wir sie heute verstehen, sondern gemeint ist „lesen“ im Sinne von „VORlesen“ oder „VORtragen“. Gemeint ist die Art von „lesen“, auf die auch der Engel Dschibril hinauswollte, als er zum Propheten أقرأ (iqra) sagte, denn er hat ihm ﷺ ja kein Buch zum Vorlesen in die Hand gedrückt, sondern der Prophet ﷺ sollte ihm nachsprechen.
قَرَأَ bezeichnet also eigentlich die Tätigkeit, wenn man etwas öffentlich so vorträgt, wie wenn man vor einem Publikum steht und aus einer Schriftrolle liest.
Vielleicht wird jetzt klar: Der Qur’an ist dazu gedacht, in der Öffentlichkeit gelesen zu werden. So sagt Allah auch im Qur’an:
„Einen Qurʾān haben Wir (offenbart, den Wir in Abschnitte) unterteilt (haben), damit du ihn den Menschen in Abständen vorträgst“ (17:106)
Das Wort, das hier verwendet wird, ist تَقْرَأَ , was wiederum قَرَأَ bedeutet, also etwas verlesen oder rezitieren.
Bemerkenswert ist auch, dass Qur’an mit einem langgezogenen „ān“ endet. Diese Endung bezeichnet im Arabischen etwas, das sehr häufig oder viel gemacht wird. In diesem Sinne drückt es auch extreme Emotionen aus.
Es gibt Worte wie غَضْبان (ḡaḍbān), wenn man richtig wütend ist und man nahezu vor Wut platzt, جَوْعان (jawʻān), wenn man richtig hungrig ist und das „Loch“ im Bauch geradezu spürt, تَعْبان (taʻbān), wenn man todmüde ist und fast schon umfällt… und dann ist da noch ٱلْرَّحْمَـان, der Allerbarmer, der über alle Maßen barmherzig ist.
All das sind Worte, die keine einfache Bedeutung haben, sondern viel mehr Extreme ausdrücken.
القرآن ist also allein schon von der Sprache etwas, das unglaublich viel und immer und immer wieder gelesen bzw. rezitiert wird. Tatsächlich gibt es kein Buch auf diesem Planeten, das so häufig gelesen wird, wie der Qur’an.
Vergleicht man das einmal mit deinem Lieblingsroman, wird man feststellen, dass das praktisch auch gar nicht möglich ist. Du hast ihn 1-2x gelesen, vielleicht sogar ein 3. oder 4. Mal, wenn er besonders spannend war, aber danach ist er auch schon wieder langweilig.
Dagegen verhält es sich mit dem Qur’an ganz anders. Sehr viele lesen ihn jedes Jahr im Ramadan zumindest 1x komplett durch. Ja, es gibt sogar Leute, die ihn alle sieben Tage 1x komplett durchlesen!
Von Imam Shafi’i wird berichtet, dass er im Ramadan den Qur’an ganze 60x gelesen haben soll, das bedeutet also jeden Tag 2x! Lassen wir mal die Frage beiseite, wie er das zeitlich organisiert hat, aber denkt mal darüber nach: Welches Buch könnte man überhaupt 2x am Tag vollständig durchlesen? Die Wahrheit ist, dass der Qur’an das einzige Buch auf der Welt ist, auf den das zutrifft, und auch, wenn man sich fragt, wodurch er bewahrt wurde, stellt man fest: Er wurde eben dadurch bewahrt, DASS er ein Qur’an ist – etwas, das immer und immer wieder gelesen und vorgetragen wird! SubhanAllah!
Der Qur’an wurde auch niedergeschrieben, aber das war entgegen jeglicher Annahmen nicht der Grund, weshalb er bewahrt wurde. Zuallererst war es die Tatsache, dass er immer wieder vorgetragen wurde und bis zum heutigen Tag wird, ob im Gebet oder außerhalb dessen. Tatsächlich ist diese Methodik der Bewahrung, nämlich das Auswendiglernen, viel sicherer und aussichtsvoller als etwas rein schriftlich zu bewahren, denn beim Abschreiben braucht man nur einmal einen kleinen Fehler machen und schon war’s das mit der Bewahrung. Dies illustriert auch die folgende schöne Geschichte, die sich einst im Nahen Osten zutrug:
Einmal kam jemand in die Stadt und fand drei verschiedene Religionen vor, das Judentum, Christentum und den Islam, und natürlich behauptete jeder ihrer jeweiligen Anhänger, der wahren Religion zu folgen. Eben das wollte der Stadtbesucher überprüfen und schauen, wer von ihnen jetzt Recht hatte.
So nahm er sich kurzerhand von allen dreien ihr Heiliges Buch und schmuggelte einige Fehler darin ein. Danach gab er es einem Abschreiber der jeweiligen Religion (damals gab es ja noch keinen Buchdruck und es wurde alles per Hand geschrieben ), um eine Kopie davon erstellen zu lassen.
Zum Beispiel nahm er sich die Thora, baute einige Fehler darin ein, gab es einem jüdischen Abschreiber zum Kopieren, und dieser schrieb es ab, inkl. der Fehler und gab es ihm wieder zurück. Dasselbe geschah mit der Bibel und dem christlichen Abschreiber. Und natürlich versuchte er dasselbe mit dem Qur’an. Er schmuggelte ein paar unbedeutende Fehler darin ein, gab es dem muslimischen Abschreiber und nach ein paar Tagen wollte er seine Kopie abholen, doch der Abschreiber sagte sofort: „Das, was du mir da gegeben hast, ist nicht der Qur’an!“ Dadurch erkannte er die Wahrheit.
In Anbetracht all dessen, wie können wir jetzt diesem Qur’an, der ein Geschenk an uns war, gerecht werden?
Vielleicht ist die Antwort darauf naheliegend: Wir werden ihm gerecht, indem wir ihn zum Qur’an machen, indem wir ihn so behandeln, wie es der Name auch ausdrückt und ihm gebührt, und nicht als etwas, das inzwischen verstaubt in unserem Regal liegt.

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