Lehren aus der Sira: Einleitung

Vor etwa 1400 Jahren gab es ein Ereignis, das die Geschichte der Menschheit dermaßen veränderte, dass danach nichts mehr war wie je zuvor. Es begann alles mit einer Nacht, in der sich ein Mann im Alter von 40 Jahren in eine Höhle zurückzog, um wie gewohnt, wie man es wohl heute bezeichnen würde, zu meditieren. In dieser Nacht kommt ein Engel zu ihm und sagt: „Lies“, woraufhin der Mann sagt, er könne nicht lesen. Daraufhin greift der Engel ihn, packt ihn fast bis zu seiner Erschöpfung, und er sagt:

„Lies im Namen deines Herrn, Der erschaffen hat“ (96:1).

Dieser Engel war niemand geringeres als der Engel Dschibril… und dieser Mann war niemand geringeres als Muhammed ibn Abdillah ibn Abdil Muttalib ﷺ.

Der amerikanische Astrophysiker und wohlgemerkt weißen Rassen-Separatist Michael H. Hart schrieb im Jahre 1978 ein Buch mit dem Titel „Die 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Menschheitsgeschichte“ und setzte den Propheten Muhammed an die Spitze. Er war darauf eingestellt, dass die Leute ihn – gerade ihn, als weißen Rassen-Separatist – fragen und kritisieren würden, weshalb er sich dazu entschied, Platz 1 ausgerechnet mit Muhammed zu besetzen, und schrieb daher in einem längeren Vorwort:

„Dass ich Mohammed an die Spitze der Liste der einflussreichsten Personen der Welt gesetzt habe, mag einige Leserinnen und Leser überraschen und von anderen in Frage gestellt werden, aber er war der einzige Mann in der Geschichte, der sowohl auf religiöser als auch auf weltlicher Ebene äußerst erfolgreich war.“

Und er hat Recht, denn oft gab es im Laufe der Geschichte Persönlichkeiten, die entweder ausschließlich auf religiöser oder weltlicher Ebene erfolgreich waren, aber nur ein einziger Mensch verband beides, nämlich er. Er trug eine Veränderung in die Welt, die bis dato ohnegleichen war. Mit dem Beginn seines Prophetentums änderte sich alles: Wie die Leute redeten, einander begrüßten, wen und wie sie heirateten, wie sie aßen und tranken, wie sie schliefen und aufstanden, wie sie sich einkleideten, welche Geschäfte sie abschloßen, die Liste ist lang…

Diese Veränderungen waren jedoch nicht zu vergleichen mit dem Wandel durch eine Revolution, denn meist beschränkt sich letztere nur auf einen konkreten Bereich und die Initiatoren bekommen meist nicht mal mehr mit, wenn ihre Anstiftung Früchte trägt. Doch hier ist etwas passiert, das die gesamte Gesellschaft gepackt und jeden Lebensbereich erschüttert hat. Es wirkte sich aus auf Politik, Religion, Wirtschaft, Moral – ja, selbst den Zusammenhalt und den zwischenmenschlichen Umgang unter den Menschen. Und die Leute setzten es nicht aus Zwang, sondern aus purer Liebe um. Wir wissen ja, dass die kleinste Änderung in der Gewohnheit einem Menschen unglaublich schwerfällt. Man denke nur an das Alkoholverbot der USA in den 30er Jahren und die Menschen dieses weiterhin missachteten. Bei uns Muslimen war das nicht so. Es hatte nur ein einziger offenbarter Vers gereicht und in Medina floß bereits der Wein die Straßen hinab.

All dies kam aber natürlich nicht von heute auf morgen. Muhammed ﷺ wurde 40 Jahre lang auf seine Mission vorbereitet, bis er ins Prophetentum erhoben wurde. Daraufhin schloss er seinen Auftrag innerhalb der nächsten 23 Jahre ab. Insgesamt sprechen wir hier also von einem Lebensweg von 63 Jahren. 

Einen Weg, den man entlanggeht, nennt man im Arabischen السيرة (as-Sira). Das kommt von der Wortwurzel سارَ (sara), was soviel heißt wie „gehen“ oder „umherziehen“. Sira nennt man auch im übertragenen Sinne den Lebensweg eines Menschen, doch wenn wir diesen Ausdruck verwenden, meinen wir ganz konkret den Lebensweg eines bestimmten Menschen, nämlich den des Propheten ﷺ.

Ali ibn Abi Talib sagte:

„Wir pflegten den Qur’an genau so zu studieren wie die Sira.“

Laut dieser Aussage befinden sich der Heilige Koran und die Sira also auf dem gleichen Level. Natürlich ist ersterer das Wort Allahs, an das nichts und niemand herankommt, doch es geht in dieser Aussage primär um das Level an Aufmerksamkeit, das beiden geschenkt wurde, sowie das Maß an Willensbereitschaft, beides zu verstehen und kennenzulernen. Und ebendies befand sich in Sachen Stellenwert für die Menschen damals um den Propheten ﷺ herum auf demselben Level und sie studierten beides zusammen.

Eigentlich ist dies nichts Ungewöhnliches, denn die Menschheit pflegte stets große Persönlichkeiten der Geschichte zu studieren, so z. B. Caesar, Karl der Große, Goethe und Einstein.

Doch derjenige, der den größten geschichtlichen Einfluss auf die Menschheit hatte und dessen Einfluss unaufhörlich bis in die heutige Zeit reicht, ist in unseren Reihen zu finden. Wir *haben* eine Sira, ganz im Gegensatz zu allen anderen Religionen. So gibt es im Vergleich zum Christentum hier und da vielleicht einige Aussagen der Bibel, aber es bleibt umstritten, woher sie kommen, ganz zu Schweigen von den erwähnten Personen im alten Testament. 

Dagegen wissen wir sehr genau, wie der Prophet ﷺ sein Leben verbrachte. Er ist der Garant für die Glaubwürdigkeit all der Personen zuvor. Bei ihm besteht keinerlei Zweifel, dass er gelebt und wie er gelebt hat, weder Muslime noch Nichtmuslime könnten dies bestreiten. 

Wir erinnern uns nochmal an die obige Aussage von Ali (ra). Abgesehen von der Liebe, die die Leute um den Propheten herum zu ihm hatten, war ein weiter Grund für den Stellenwert, den sie dem Studium der Sira beimaßen der, dass der Koran eine Begleitung der Sira darstellt. Er hat sozusagen den Propheten auf bzw. während seiner Mission begleitet. Ein vergleichender Blick auf die Sira und in den Koran verrät uns, zu welchem Anlass Allah einen bestimmten Vers offenbarte und was gerade auf dem Lebensweg des Propheten ﷺ passiert war und wie Allah das Ganze kommentierte. 

Aicha (ra) berichtete:

„Der Charakter des Propheten war der Koran.“

Dies verdeutlicht einmal mehr, dass der Prophet ﷺ sozusagen ein „wandelnder Koran“ war, dass sein Leben der Koran in der Praxis war. Manchmal handelte er milde, manchmal hart, und um die Ausnahmesituationen herauszufinden, in denen er hart agierte, muss man die Sira studieren. Allgemein gilt, dass wenn man seine Charaktereigenschaften im Sinne des Islam erziehen möchte, es wohl kaum ein Hilfsmittel wie die Sira des Propheten gibt. 

Das Studium der Sira ist in schweren Zeiten eine Hilfestellung und macht optimistisch, denn schließlich erzählt sie von einem Mann auf einer Mission, die zu Anbeginn absolut unmöglich erscheint. Ein einziger Mann soll nicht nur eine ganze Gesellschaft davon überzeugen, dass er ein Gesandter vom Schöpfer der Himmel und Erde ist, sondern auch dass dieser Schöpfer durch einen Engel Offenbarungen mit ihm teilt, die besagen, dass ihm zu folgen die einzige Möglichkeit ist, sein Jenseits zu retten. Man stelle sich nur heute einmal ein ähnliches Szenario vor, in dem der Nachbar von nebenan an unserer Tür klopft und er nicht nur uns, sondern die gesamte Stadt überzeugen muss. 

Während wir allerdings Optimismus aus der Geschichte des Propheten selbst schöpfen können, woher konnte dann der Prophet ﷺ wiederum seinen Optimismus schöpfen? Allah offenbarte ihm die Geschichten früherer Propheten, wie Allah in Sure al-Hud sagt:

„Alles berichten Wir dir von den Nachrichten über die Gesandten, womit Wir dein Herz festigen. Darin ist dir die Wahrheit zugekommen, und eine Ermahnung und Erinnerung für die Gläubigen.“ (11:120) 

Das gab ihm die nötige Kraft und den Mut, sich auf diese ganz offenbar unmögliche Mission zu begeben.

Wenn man heutzutage die Menschen fragt, was der Sinn des Lebens ist, bekommt man nicht nur die unterschiedlichsten Antworten zu hören, sondern vor allem wird oftmals in der Theorie etwas gesagt und in der Praxis etwas völlig anderes gemacht. In der Praxis dreht sich alles darum, das Leben zu genießen und Probleme möglichst zu vermeiden. 

Doch wenn man die Sira liest, wird man schnell feststellen, dass das nicht Sinn des Leben ist, denn die Probleme werden sowieso zu dir kommen und lassen sich nicht vermeiden. Stattdessen geht es darum, dass wenn man diese Welt verlässt, Allah mit einem zufrieden ist.

Auch wenn man darüber nachsinnt, wie das Christentum zu einer Weltreligion wurde, bemerkt man, dass dies nicht durch seine frühesten Anhänger geschah. Tatsächlich war das Christentum über 300 Jahre lang in seinen Anfängen eine Sekte im Untergrund im römischen Reich – bis zu einem Moment, an dem der römische Kaiser zum Christ wurde und im Laufe dann immer mehr Menschen zum Christentum übertraten. Es war eine Art Dominoeffekt mit einem bedeutenden Herrscher als ersten Dominostein, der fiel und die Kette in Gang setzte.

Mit dem Islam verhielt sich das nicht so. Niemand nahm den Islam einfach so an. Ganz im Gegenteil. Die Religion wurde zu Beginn dermaßen bekämpft. Vielleicht ist die Weisheit dahinter, dass die Religion nicht auf demselben Wege groß geworden ist, sondern von Muhammed gebracht wurde, dass Muhammed auch nur ein einfacher Mann war und Erfolg nur von Allah kommen kann.

Man könnte argumentieren, dass es heutzutage reicht, wenn man einem Nichtmuslim einfach ein Buch über die Sira in die Hand drückt und ihm empfiehlt, sich selbst ein Bild davon zu machen, wer Muhammed war. Jemand der offen ist, ist nicht voreingenommen und würde aufrichtig erkennen, dass Muhammed ein Gesandter Allahs war. 

Wenn man die Sira liest, bekommt man automatisch den Wunsch im Herzen, den Propheten ﷺ selbst erleben zu können. Dieses Gefühl, mit ihm zu leben und seinen Lebensweg direkt mitverfolgen zu können, hat am Ende auch die Sahaba geprägt und war nicht zuletzt der Grund für ihre Liebe zu ihm. 

Wie können wir dorthin kommen, wo diese Leute waren? 

Wir kommen dorthin, indem wir den Spuren seines Lebenswegs folgen, und das können wir nur, wenn wir zunächst darüber lernen. Und wir Muslime in der heutigen Zeit haben sogar das Privileg, auf bereits zusammengestellte Sira-Werke zurückgreifen zu können. 

Um es abzuschließen, ein Nichtmuslim, der von den Hadithwissenschaften fasziniert war, sagte einmal:

„Die Muslime haben die Biografien von einer halben Millionen Menschen studiert, und das alles nur wegen den Aussagen eines Einzigen.“


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